Kolumne April 2013

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Gelegentlich tut der Mensch schon mal Dinge aus dem Bauchgefühl heraus, wie es so schön heißt, und so verlässt man sich, ohne eigentlich richtig nachzudenken, irgendwie auf eine Art blinde Intuition. Im Nachhinein ist man dann oft überrascht darüber, bis wohin es einen bringt, die verschiedenen Verbindungen, die es zum eigenen Leben gibt, den Erfahrungen, die man gemacht und den Menschen, die man jemals gekannt oder bewundert hat, aus nächster Nähe oder von der Ferne aus. Dies konnte ich selber an der Akademie der Schönen Künste in Antwerpen erlernen, einem Ort an dem man erfährt, dass Kunstmachen etwas enorm Intuitives ist und von daher auch einen enormen Wahrheitsgehalt hat. Und dadurch kommt man schließlich zu den meist seltsamen und beeindruckenden Erfahrungen.

Nun, ich denke, dass es zu Ostern selbst war, als ich etwas Gleichartiges, als wenn es sich von einem Drehbuch abgespielt hätte, erlebte. Ich selbst bin hauptsächlich mit Fotografie und Kunst beschäftigt und ab-und-zu suche ich im Internet nach Jobangeboten für Freiwillige, die mit Fotografie zu tun haben. Jetzt hatte ich aber durch einen dummen Zufall zu meinem früheren Schreibtalent zurückgefunden und war auf der Suche nach einer Freiwilligentätigkeit als Reporter. Freiwillig wegen meinem Statut als Behinderter, bereits seit länger als fünf Jahren, und weil ich manchmal von irgendwo weit in meinem Hinterkopf den Ruf höre, mich nützlich zu machen und etwas für die anderen zu tun. Ich habe festgestellt, dass ich davon viel mehr habe, gleichgültig welche Medizin ich auch im Vergleich dazu schlucken musste. Mein ‚handicap‘ ist nicht enorm einschränkend, weil es von mentaler Art ist, eine bipolare Störung, dennoch sicher arg lästig und auch einschränkender als es viele Menschen unmittelbar vermuten würden. Von daher auch mein tieferliegendes Interesse und meine Verbundenheit zu anderen Menschen mit einem seriösen Problem, um es mal so auszudrücken.

So fand ich, wie aus heiterem Himmel gefallen, die Webseite der ALS-Liga, die einen Reporter suchte. Ich kannte ALS nicht wirklich, bis ich es auf Wikipedia aufgesucht hatte und dann anfing mir die Erklärung zur Muskelerkrankung durchzulesen, wobei dann der Groschen fiel – ach-ja, davon habe ich natürlich schon etwas gehört. Aber was für ein komplizierter Name auch! Ich werde diesen auch nicht einmal versuchen in meinem Kopf zu behalten.

Kurz entschlossen, habe ich ein kleines E-Mail weggeschickt und dann, etwa drei Tage nach Ostern, saß ich bei Danny in der Küche zum Gespräch. Danny hat selber ALS, er kann wohl sprechen, ist aber nicht weiter mobil. Ich hatte es nicht erwartet, schon gleich mit einem Patienten konfrontiert zu werden und fühlte mich, zugegeben, etwas unwohl. Was tut man denn in so einem Fall? Ihm die Hand reichen wäre etwas lachhaft, deshalb nickte ich zum Guten-Tag mit einem Lächeln. An sich ist es bewundernswert, dass jemand Patient in solch einer, doch recht schwierigen Situation sein kann und gleichzeitig so eine Organisation voranschieben kann – das hatte ich ehrlich gesagt, niemals erwartet.

Noch beeindruckt vom Kinn-gesteuerten Rollstuhl – ich bin Ingenieur von der Ausbildung her und Technik fasziniert den kleinen Jungen in mir noch immer – beginnt Danny mir über die Erkrankung zu erzählen. Ich dachte irgendwo gelesen zu haben, dass es eine langsame (aber stets) fortschreitende Krankheitsform ist, aber dies schien dann doch nicht so langsam zu sein, wie ich es mir vorgestellt habe. Manchmal dauert alles nur einige Jahre. Das war doch ein bisschen erschreckend, denn das stellt manches dann doch in ein anderes Licht. Danny erzählt mir auch, dass Euthanasie regelmäßig vorkommt und ich mich darauf vorbereiten sollte, dass ich mit dem Tod und dem Weg dorthin konfrontiert werde. Ob mich das abschreckt? Nein, nicht wirklich, eigentlich finde ich es eher faszinierend. Ich bin selber oft mit dem Tod beschäftigt gewesen und zu dem Punkt gekommen, dass Angst für mich keine Rolle mehr spielt. Ob es mir schwer fallen wird? Das ist noch etwas anderes, was man nicht so vorauszusagen wagt, aber ich denke, dass es mir doch gelingen wird.

Einen Aspekt den man vielleicht manchmal vergisst - manchmal allzu gerne - ist die letztendliche Vergänglichkeit. Wahr ist, dass jeder Mensch früher oder später zu Tode geht, doch der Weg dorthin ist für jeden anders und es ist eher das Leben selbst, welches es schwer macht eine Krankheit wie ALS zu tragen.

Irgendwie werde ich davon gepackt, wie Menschen, die durch ALS getroffen werden hierauf reagieren, damit umgehen - jeder auf seine Art - und scheinbar gibt es doch viele, die es schaffen eine positive Haltung zu bewahren. Das ist, was mich vor allem fesselt. Wie kann jemand, der vom Schicksal so hart getroffen wird, doch noch eine Weise finden, um von den sehr harten (physischen) Behinderungen heraus einen psychischen Weg zu finden? Vielleicht kommt das wohl dadurch zustande, weil so viele harte Einschränkungen mit der Krankheit verbunden sind, dass nur noch wenig an Auswahl oder Auswahlmöglichkeit oder ganz einfach gesagt, wenig Freiheit selbst übrig bleibt? Darüber werde ich sicher noch etwas länger nachdenken müssen und später sicher darauf zurückkommen.

Dass man wohl wahrlich einmal eine Lanze für ALS brechen sollte, wird für mich schnell deutlich. Mehr Mittel für Forschung und für ein Arzneimittel ist letztendlich das Einzige, das wirklich etwas verändern kann und das ist vielleicht die wichtigste Hoffnung, die viele Patienten hegen. Danny fragt deshalb auch danach, um eine Art Kolumne zu betreuen, womit dieser Aspekt auch zum Zug kommt und die Aspekte von Politik und Gesellschaft zum Thema Forschung angesprochen werden. Das scheint mir in der Tat das Nützlichste zu sein, was ich tun kann. Dies, und hoffen, dass sich etwas bewegt, in Bewegung kommt und dass dann der Würfel der Forscher auf einmal auf die richtige Seite fällt.

Neben dem, möchte ich in dieser Kolumne ganz einfach über meine Erfahrungen reflektieren, darüber, wie ich die Sachen sehe und wie ich, als völliger Außensteher hinsichtlich ALS, mit einer Erkrankung, die mir fast im Weg steht, ALS-Patienten sehe, erfahre, von ihnen lerne, die ich versuche als Mensch kennenzulernen. Sowie in Texten, als auch in Fotos werden hier immer meine eigenen Gefühle und Emotionen zurück zu finden sein und ich hoffe, dass jedermann der darin liest, dies auch schätzt.

Um auf den Anstoß, der mich zu diesem Text bewegt zurück zu kommen, über das Intuitive gesprochen: Es überfällt mich das Gefühl selbst jetzt, dass sich für mich durch meinen begrenzten Einsatz für die ALS Liga, durch Kennenlernen von etwas Unbekanntem neue Türen aufgehen. Türen zu Räumen, die mir schrecklich bekannt sind und mich dazu auffordern meine Erfahrungen mit anderen zu teilen.

Letztendlich ist es das Akzeptieren und das Umgehen Lernen mit einer Krankheit, mit dem Schicksal, mit den dazugehörenden Einschränkungen und mit der direkten Erfahrung der Vergänglichkeit. All diese Aspekte sind eigentlich universell menschlich und man wird sie in alle ihre Formen und Farben überall zurückfinden, wenn man auch dafür offen steht. In der Kunst, in der Literatur, im Theater, in der Fotografie, in der Philosophie und auch an jedem gewöhnlichen Tag, bei allen Menschen ohne Vorzug, bei denen, die sich im Zug oder im Bus einem gegenüber hinsetzen oder die mit dem Einkaufswagen an der Supermarktkasse vor einem stehen…

Zwei Bilder sind es nun, die sich bei mir, nach meinem ersten Kontakt mit der ALS einprägen. Das erste ist ein früheres Trugbild, das ich hatte, von einem Stephen Hawking, der wahrscheinlich der berühmteste ALS-Patient ist. Dabei schwebt mir eine skulpturale Installation vor Augen, die ich etwa vor zehn Jahren in Avignon sah.

Dabei saß auf einem steilen Felsen, an einem tiefen Abgrund (als Skulptur) oben auf der Kante, Stephen Hawking in seinem Rollstuhl balancierend, das subtile zerbrechliche Gleichgewicht. Der Titel vom Werk war „Übermensch“. Das regte mich damals genauso wie jetzt zum Nachdenken an. Ist es möglich, dass durch bestimmte Einschränkungen sich andere Persönlichkeitsaspekte stärker entwickeln, wie bei einem Blinden die Fähigkeit besser zu hören?

Das zweite Bild ist sehr direkt und führt zu den Kellern von Sint-Raphaëlziekenhuis, wo sich der Rollwagenpark der ALS Liga befindet. Deren Anblick in ihrer großen Anzahl, raumfüllend und dicht aneinander stehend ist Sinnesbetörend. Es regt den Menschen an, um über Größenordnungen nachzudenken. Ich habe noch nie so viele Rollstühle nebeneinandergeparkt gesehen und habe mich geärgert, dass ich meinen Fotoapparat nicht mit dabei hatte. Das werde ich an einem späteren Moment sicher tun. Für mich vermittelt dieses Bild eine enorme Kraft und gibt die Potenz wieder helfen zu können, wo und wann immer nötig. Ich denke auch, dass die ALS Liga sich darin einzigartig macht. Andererseits hat dieses Bild eine Fülle, welche gar nicht sein muss, die dazu anregen muss, um die Anzahl zu verringern, um durch Forschung und Entwicklung zur Genesung der Krankheit oder zur Prävention dieser zu kommen, oder vielleicht gerade bis hin zum Verständnis von wie und weshalb. Denn die leeren Rollstühle warten auf ihre neuen Eigentümer, auf neue Patienten mit ALS, vielleicht selbst auf Dich oder mich oder auf den Menschen vor einem, mit seinem Wägelchen an der Supermarktkasse, der in diesem Moment sich noch keines Übels bewusst ist.

 

Tristan Herftijd,

Sugar Mountain, April 2013

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