Erblichkeit der ALS

Bei etwa 10% der Menschen mit ALS kommt die Erkrankung in der Familie vor. In diesem Fall spricht man von familiärer ALS (fALS). Bei solchen Patienten ist es von Anfang an klar dass die Krankheit erblich ist und dass es ein Risiko gibt dass nahe Verwandte auch die Krankheit vererbt haben.

Die meisten Leute mit ALS (etwa 90%) haben die sporadische oder nicht-familiäre Form (sALS genannt). Andere Angehörige ihrer Familie haben keine ALS.

Erblichkeit von fALS

fALS wird durch eine Anomalie in einer Erbanlage (das Gen) verursacht, die eine Mutation genannt wird. Ein solcher Fehler in einem ALS -Gen kann in der Theorie vererbt werden auf verschiedene Arten, aber es ist in der Praxis meistens eine "dominante" Vererbung. Das bedeutet dass jedes Kind eines Betroffenen eine Chance hat in zwei das mutierte Gen zu vererben und damit “Träger” der Mutation zu werden. Wer Träger einer fALS-Mutation ist, bekommt fast sicher die Krankheit. Das Alter in dem die Krankheit ausbricht, variiert jedoch stark. Durchschnittlich ist das etwa im Alter zwischen 50 und 60 Jahren, aber bei manchen fängt die Krankheit schon vor dem dreissigsten Lebensjahr an, bei anderen erst nach dem Alter von 80 Jahren.

In den letzten Jahren gab es einen enormen Fortschritt in der Erkenntnis der ALS-Vererbung. Verschiedene pathogene Gene wurden entdeckt. Im Moment kann der ursächliche Gendefekt bei Patienten mit fALS in etwa 80 % der Familien gefunden werden. Die häufigsten Ursachen sind Mutationen in der Superoxiddismutase 1 (SOD1), "TAR DNA binding Protein 43' oder TARDBP oder TDP-43, 'Fused in Sarcoma' oder FUS und 'Chromosome 9 open reading frame 72' oder C9orf72.

Mutationen im SOD1-Gen sind verantwortlich für fALS in etwa 20% der Familien mit fALS, Mutationen im C9orf72 für etwa 50 %, Mutationen in TARDBP für 6 % und FUS für etwa 3 %. Alle diese Mutationen werden dominant vererbt. Die Mutationen in SOD1, TARDBP und FUS sind Punktmutationen, wobei ein Basenpaar im genetischen Code Anlass gibt zur Veränderung einer einzigen Aminosäure im Protein, das auf der Grundlage dieser Code entsteht. Wie diese leicht modifizierten Proteine (man spricht von Mutanten) genau Anlass geben zu dem selektiven Absterben von Motoneuronen und dann auch noch im Erwachsenen Alter, ist ein Gebiet intensiver Forschung. Die häufigste Hypothese ist, dass die Mutanten neue toxische Eigenschaften erwerben und die Tendenz haben zu verklumpen und im Motoneuron niederzuschlagen. FUS und TDP-43 spielen auch eine wichtige Rolle im Zellkern und indem sie verklumpen können sie diese Rolle nicht länger richtig erledigen.

Bei dem C9orF72-Gen, handelt es sich um eine andere Art von Mutation, nämlich ein "repeat Expansion".

Das Erbgut enthält in einigen Orten eine Reihe von Wiederholungen eines kurzen Abc-Codes. Bei C9orf72 handelt es sich um eine Wiederholung von GGGGCC am Anfang des C9orf72-Gens, ein Stück, das nicht zum Protein übertragen wird. Gesunde Personen haben einige Wiederholungen dieses 'Repeats'. Wenn die Länge dieser repeat zunimmt, gibt es Anlass zu ALS. Darüber hinaus kann es auch frontotemporale Degeneration veranlassen, eine neurodegenerative Erkrankung, die verwandt ist mit ALS. Die Funktion des C9orf72-Gens ist bis heute unbekannt. Wie der Anstieg der GGGGCC Repeat-Länge ALS veranlasst, weiss man nicht. Die Mutation kann auf der einen Seite die Bildung des normalen Proteins C9orf72 stören, andererseits kann die Wiederholung im Boten RNA zur Bildung von RNA Foci führen, und sogar umgesetzt werden in abnormale Proteinen die aus einer Wiederholung von zwei Aminosäuren bestehen.

In den letzten Jahren sind verschiedene andere ALS-Gene entdeckt worden. Diese Gene kommen nur in einem niedrigen Prozentsatz der Patienten vor. Beispiele sind: OPTN, TBK1, UBQLN2, VCP, SETX, VAPB, ANG, CHMP2B, alsin, PFN1, SPG11, TUBA4A.

In Familien, in denen die ursächlichen Mutationen in betroffenen Personen nachgewiesen sind, können wir bei nicht-betroffenen Personen nach eventueller Trägerschaft suchen. Das ist die sogenannte präklinische Aufspürung, die nur geschieht unter enge Begleitung der Personen die sich testen lassen wollen. Wenn Trägerschaft bestätigt wird, ist individuelle Beratung möglich (man spricht von genetischer Beratung) um zu verhindern, dass die Trägerschaft an die nächste Generation weitergegeben wird.

Die Krankheit verursacht durch Mutationen in SOD1, C9orf72, TARDBP oder FUS ist sehr variabel: das Alter am Anfang, die Art des Befalls und der Grad oder die Aggressivität der Krankheit (Krankheitsdauer) ist sehr variabel zwischen Familien mit unterschiedlichen Mutationen, aber auch zwischen den Familienmitgliedern, die alle die gleiche Mutation haben. Das bedeutet, dass es andere, höchstwahrscheinlich auch erbliche Faktoren gibt, die die Art und Weise worauf die Motorneurondegeneration auftritt "modifizieren". Deren Identifizierung ist sehr wichtig. Aus Forschung bei Patienten mit SOD1-Mutationen in Skandinavien wissen wir nämlich, dass solche modifizierenden Faktoren den Ausbruch der Krankheit vollständig unterdrücken können.

In etwa 20% der Familien mit fALS kennen wir also das ursächliche Gen nicht und ein präklinischer Test kann auch nicht stattfinden. Ein negativer Test für SOD1, C9orf72, TARDBP und FUS bedeutet dann nämlich nichts, weil auch bei den betroffenen Patienten der Test negativ ist und es sich also um noch nicht entdeckte ALS-Gene handelt. In diesen Familien müssen wir uns einfach behelfen mit einer Risikoeinschätzung von jeder zweite.

Erblichkeit von sALS

Unvermutet zeigt es sich dass eine kleine Minderheit der sALS Patienten auch fALS haben. Das ist bekannt,, weil bei einem Teil der so genannten sALS Patienten dennoch Mutationen in SOD1, C9orf72, TARDBP oder FUS gefunden wurden. Vor allem Mutationen im C9orf72-Gen finden sich gelegentlich vor bei ALS-Patienten ohne ALS-Familienanamnese. Mögliche Ursachen hierfür sind: der Elternteil, der den Gendefekt übergegeben hat bevor die Krankheit in ihm oder ihr ausbrechen konnte. der biologische Vater ist nicht der rechtliche Vater, die Krankheit hat bei den Kindern an einem jungen Alter angefangen, noch bevor ein Elternteil von der Krankheit betroffen war, oder es hat eine neue Mutation bei einem den Kindern gegeben, die bei den Eltern nicht anwesend war. Alle diese Gründe machen es vertretbar auch bei ALS-Patienten ohne eine Familienanamnese einen Gen-Test anzustellen.

Auch für sALS scheinen erbliche Faktoren eine Rolle zu spielen, aber nicht in der gleichen Weise wie für fALS. Für sALS kommen vermutlich einige erblichen Faktoren zusammen, möglicherweise in Verbindung mit (einem) Faktor (en) aus der Umgebung, wodurch die Krankheit bei jemandem auftritt. Solche erblichen Faktoren werden Risikogene genannt. Das Risiko um im Laufe des Lebens ALS zu bekommen, beläuft sich auf 1/400. Risikogene können die Wahrscheinlichkeit des Erhaltens von ALS erhöhen, aber sie führen nicht automatisch zur Krankheit. Es handelt sich hier also um die Vererbung einer Prädisposition. Man spricht hier von komplexer Vererbung.

Die Entwicklung besserer Tests zur Untersuchung des Erbguts (GWAS, Exome Sequenzierung, ganze Genom-Sequenzierung) ermöglicht es, solche Risikogene zu entdecken.

In den letzten Jahren wurden so viele entdeckt: UNC13A, ATXN2, SQSTM1, NEKI, C21orf2.

Beschluss

Zusammenfassend können wir also schließen dass die Erblichkeit von ALS gleichzeitig einfach (für die familiären Fälle, man erbt eine "Krankheit") und komplex (für die sporadischen Fälle, man kann eine "Prädisposition" Erben) ist. Viele weitere Untersuchungen sind nötig um die Sache abzufertigen.

Worauf es ankommt ist, dass in fALS das Erbgut fast immer "dominant" ist, während das Risiko für die Kinder eines Patienten mit 'echter'' sALS nicht viel größer als die eines jeden ist.

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