Gentherapie mit Wachstumsfaktor scheint vielversprechende Therapie zu sein

18-06-2004

Die Erfindung von Professor Peter Carmeliet und seinem Team

ALS oder "Amyotrophe Lateralsklerose" ist eine unheilbare lähmende Muskelerkrankung, von der fünf von hunderttausend Menschen betroffen sind. Die Krankheit betrifft oft gesunde Menschen während der aktivsten Phase ihres Lebens, ohne Vorwarnung oder Familienanamnese. ALS kann jeden betreffen. Der chinesische Staatschef Mao Tse Tung, der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch, der legendäre Yankee-Baseballspieler Lou Gehrig und der Astrophysiker Stephen Hawkins waren alle von ALS betroffen. Ungewöhnlich viele italienische Spitzenfußballer, Flugzeugpiloten und Soldaten im Golfkrieg waren ebenfalls von dieser tödlichen Krankheit betroffen. Etwa die Hälfte von ihnen stirbt innerhalb von drei Jahren (einige sogar innerhalb des Jahres) und in der Regel "bei klarem Verstand" an den Folgen des Erstickens.

Bei einem Patienten mit ALS degenerieren die Nervenbahnen, die zu den Muskeln führen. Infolgedessen verliert der Patient die Kontrolle über seine Muskeln, was progressiv zur kompletten Lähmung führt.  Von dieser schweren degenerativen Erkrankung mit enormen medizinisch-sozialen Auswirkungen bleibt der Entstehungsmechanismus unklar. Die Krankheit ist bisher völlig unbehandelbar. Die genetische Forschung von Peter Carmeliet und seinem Team vom VIB (Flämisches Interuniversitäres Institut für Biotechnologie) an der K.U.Leuven führte bereits zu der überraschenden Erkenntnis, dass der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF) in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielt.

VEGF ist eine Signalsubstanz, die das Wachstum von Blutgefäßen steuert. Wenn ein Gewebe Sauerstoffmangel hat, wird das Protein in hohem Maße produziert. Dadurch wachsen neue Blutgefäße, so dass der Sauerstoffmangel wieder abnimmt. VEGF hilft auch Nervenzellen unter Stressbedingungen zu überleben. Im vergangenen Jahr zeigte die Arbeit des Teams von Peter Carmeliet, dass Personen, die zu wenig VEGF produzieren (aufgrund bestimmter Variationen im Gen das VEGF kodiert), eher ALS entwickeln.

Jetzt, ein Jahr später, zeigt Peter Carmeliet zusammen mit Oxford Biomedica (einem Biotech-Unternehmen in Oxford), dass eine Injektion des VEGF-Gens in die Muskeln den Beginn und die Entwicklung von ALS bei Mäusen verlangsamt. Auch eine Behandlung, die erst bei den ersten Lähmungserscheinungen und damit nach dem Absterben von Nervenbahnen beginnt, erzielt gute Ergebnisse. Dies ist wichtig für die klinische Anwendung, da ALS in mehr als 90% der Fälle nicht vor Beginn diagnostiziert werden kann.

Die VEGF-Behandlung erhöht die Lebenserwartung der ALS-Mäuse um 30% und es gibt keine toxischen Nebenwirkungen. Dies macht diese Behandlung momentan zu einer der vielversprechendsten Therapien. Die Gentherapie ist vorerst umstritten, aber die Forscher hoffen, dass die von der britischen Firma entwickelte Methode zur Expression des VEGF-Gens in Nervenbahnen sicher und nützlich sein wird, und möglicherweise unverzichtbar für die Behandlung der unheilbaren Muskelkrankheit.

Obwohl diese Ergebnisse ermutigend und vielversprechend sind, ist es noch ein langer Weg, bis es ein neues Medikament geben kann. Kontrollierte Studien an ALS-Patienten müssen die therapeutische Wirkung von VEGF bei ALS nachweisen, bevor es ein zugängliches Medikament werden kann.  Solche Verfahren können leicht 10 Jahre dauern.

Biotechnologie für unsere Gesundheit
Die Biotechnologie verwendet lebende Organismen oder Teile davon, um Produkte herzustellen oder zu modifizieren, Pflanzen oder Tiere anzupassen oder Mikroorganismen für bestimmte Zwecke zu entwickeln. Sie gibt uns immer mehr Einblicke in die biologischen Prozesse von Menschen und Tier und damit auch in das, was schief gehen kann. Da die Wissenschaftler ein besseres Bild von den Ursachen verschiedener Krankheiten bekommen, sind sie besser in der Lage, Anomalien zu reparieren.

Die Biotechnologie ist eine mächtige Waffe der modernen Medizin. Sie gibt uns neue Medikamente und Impfstoffe, neue Methoden zur Erkennung von Krankheiten und genetischen Anomalien und neue Techniken zur Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten. Eine Vielzahl von Anwendungen ist bereits weltweit im Einsatz und nicht mehr wegzudenken. Andere stecken noch in den Kinderschuhen und sind teilweise umstritten.

Was ist Gentherapie?
Viele Krankheiten oder Zustände werden durch die Nichtfunktion oder Fehlfunktion eines Proteins in unserem Körper verursacht. Der Fehler kann gefunden werden im DNA-Code, oder im Gen dass das Rezept für die Produktion des Proteins liefert. Solche Krankheiten können geheilt werden, indem eine zusätzliche Kopie des Gens dass das Protein produziert, in die Zelle eingeführt wird. Der neue DNA-Code wird die Rolle des falschen Gens übernehmen. Theoretisch kann diese Therapie – Gentherapie - alle Krankheiten die durch fehlerhafte Gene verursacht werden, heilen

Einige Wissenschaftler glauben, dass die Gentherapie eine neue Revolution in der Medizin einläutet. Andere sind viel skeptischer und sagen der Gentherapie eine eher blasse Zukunft voraus. Sie betonen stets die technischen Schwierigkeiten und den fehlenden langfristigen Erfolg aktueller Gentherapie-Experimente.

Einfügen von Genen mit Hilfe eines Virus von außen
Um Gene an die richtige Stelle zu bringen, haben Forscher die Hilfe einer Gruppe unserer schlimmsten Feinde herbeigerufen: Viren. Viren sind Meister darin, genetisches Material in unsere Zellen hineinzuschmuggeln. Deshalb werden sie in gentherapeutischen Experimenten als Träger therapeutischer Gene eingesetzt. Ein solches Virus wird dann "ein Vektor" genannt. Ärzte verwenden verschiedene Arten von Viren in der Gentherapie. Unter anderem Retroviren, Adenoviren, Lentiviren oder Herpesviren. Alle haben ihre eigenen Eigenschaften und Vorteile, aber auch Nachteile. Einige dieser Nachteile sind allgemein. Zum Beispiel fürchten die Forscher, dass das neue Gentherapievirus mit einem natürlichen Virus verschmilzt oder genetische Merkmale austauscht. Daher tun sie alles, was sie können um die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Bevor eine Gentherapie von den zuständigen Behörden für den klinischen Einsatz zugelassen wird, müssen die Forscher nachweisen, dass die verwendeten Vektoren sicher sind.

Ein Vektor wird verwendet, um das VEGF-Gen zu exprimieren
Der Vektor, mit dem die britische Firma Oxford Biomedica das VEGF-Gen in den ALS-Mäusen an der richtigen Stelle exprimiert, basiert auf einem Lentivirus. Es ist ein kürzlich entwickelter Vektor der Gene in die Nervenbahnen liefert. Der Vektor wurde ausgiebig getestet. Zum Beispiel wurde er zuerst verwendet, um ein Testgen einzufügen. Dieses Gen bewirkt eine Färbung, bei der das produzierte Protein aktiv wird. Auf diese Weise können die Forscher überprüfen, wo und in welchem Ausmaß die Aktivität stattfindet. Diese Studien zeigten, dass der Vektor von Oxford Biomedica äußerst geeignet und sehr effizient war, um Gene in die Nervenbahnen und das Rückenmark zu bringen, und dies nach der Injektion in die Muskeln.

Anschließend wurde das VEGF-Gen mit diesem Vektor in ALS-Mäuse eingefügt, mit den oben beschriebenen Ergebnissen.

Mehr über VEGF
In unserem Körper werden ständig neue Blutgefäße gebildet und andere sterben ab. Dieser natürliche Prozess wird durch eine Reihe von Wachstumsfaktoren reguliert, einschließlich des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGF). Dieser Wachstumsfaktor hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten, unter anderem als mögliches Medikament gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auf der anderen Seite stehen Inhibitoren von VEGF als Anti-Wachstumsmittel gegen Tumore im Rampenlicht. Schließlich benötigen Tumore Sauerstoff und Energie, um zu wachsen. Nur Blutgefäße, die in den Tumor hineinwachsen, können ihn versorgen. Wenn man die Produktion dieser Blutgefäße verhindern kann, ist es möglich, den Tumor in seinem Wachstum zu verlangsamen.

Im vergangenen Jahr zeigte die Arbeit des Teams von Peter Carmeliet, dass Personen, die zu wenig VEGF produzieren (aufgrund bestimmter Variationen im Gen, dass VEGF kodiert), eher ALS entwickeln. Diese Hinweise auf eine Rolle von VEGF bei ALS führten zu weiterer Forschung. Das Ergebnis gibt es heute, ein Jahr später. Peter Carmeliet und sein Team zeigen, dass eine Injektion des VEGF-Gens in die Muskeln den Beginn und die Entwicklung von ALS bei Mäusen verlangsamt (für mehr Details siehe oben).

Was ist VIB? VIB, das Flämische Interuniversitäre Institut für Biotechnologie, ist ein Forschungsinstitut, in dem 800 Wissenschaftler gentechnische Forschung in Bereichen der Lebenswissenschaften wie der menschlichen Gesundheitsversorgung und insbesondere neurodegenerativen Erkrankungen wie ALS betreiben. VIB arbeitet eng mit vier flämischen Universitäten zusammen: UGent, K.U.Leuven, UA und VUB. Die VIB-Wissenschaftler*innen in den verschiedenen Forschungsgruppen (insgesamt 60) sind auf den Campus der verschiedenen Universitäten untergebracht.

Durch den Technologietransfer will das VIB die Forschungsergebnisse umsetzen in Produkten im Dienste von Verbrauchern und Patienten. Darüber hinaus übermittelt das VIB wissenschaftlich fundierte Informationen zu allen Aspekten der Biotechnologie an einem breiten Publikum.

Mehr über VIB und die Forschung finden Sie auf www.vib.be.
Bei Fragen zu dieser und anderen medizinisch orientierten Forschungen wenden Sie sich bitte an die E-Mail-Adresse, die VIB hierfür zur Verfügung stellt: patienteninfo@vib.be
Dieser Artikel wurde von Dr. Ann Van Gysel, Kommunikationsmanagerin des VIB, in Zusammenarbeit mit Professor Peter Carmeliet verfasst.

Übersetzung: Marijke Praet
 

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