Wissenschaftliche Forschung zu ALS: die wichtige Rolle der Astrozyten

06-02-2007

06-02-2007

Wissenschaftliche Forschung zu ALS: die wichtige Rolle der Astrozyten

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine dramatische Erkrankung, bei der die Motoneuronen progressiv absterben. Motoneuronen sind die Nervenzellen, die es unseren Muskeln ermöglichen, sich zu bewegen. Der Tod dieser Zellen führt zu Muskelschwäche und schließlich zu Lähmungen. Glücklicherweise ist ALS keine so häufige Krankheit, sie trifft etwa 0,4 bis 1,8 von 100.000 Menschen. Dennoch ist ALS eine sehr dramatische Erkrankung, vor allem, weil sie trotz umfangreicher wissenschaftlicher Forschung immer noch unheilbar ist. Bei etwa 2% aller ALS-Patienten wird die Krankheit durch Mutationen im Kupfer/Zink-Superoxid-Dismutase-Gen (SOD1) verursacht. Forscher in Chicago fanden heraus, dass Mäuse und Ratten, die dieses mutierte SOD1-Protein in großen Mengen produzieren, eine Krankheit entwickeln, die ihrem menschlichen Äquivalent sehr ähnlich ist. Seit dieser wichtigen Entdeckung haben sich diese mutierten SOD1-Mäuse und Ratten zum am häufigsten verwendeten Tiermodell in der wissenschaftlichen Forschung zu ALS entwickelt. Schließlich sind es wissenschaftliche Studien in diesem Mausmodell, die uns viel über die Rolle verschiedener Gene bei ALS, und über den möglichen Einsatz von neuen und besseren Medikamenten für den Menschen, lehren.

Nicht nur Motoneuronen sind bei ALS wichtig
 

Da Motoneuronen bei ALS-Patienten sterben, hat sich die ALS-Forschung traditionell auf die Motoneuronen konzentriert. Im vergangenen Jahr wurden jedoch sehr bemerkenswerte Erkenntnisse gewonnen, die unsere traditionelle Sicht auf den Ursprung der ALS völlig verändert haben. Es stellte sich heraus, dass nicht nur das Motoneuron selbst, sondern auch die Zellen, die sich in seiner Umgebung befinden, während des Lähmungsprozesses eine wichtige Rolle spielen. ALS ist also kein zellautonomer Prozess, der nur in den Motoneuronen stattfindet. Schließlich fanden Forscher in Kalifornien heraus, dass chimäre Mäuse, die sowohl normale als auch kranke Motoneuronen mit SOD1 besitzen, eine weniger aggressive Form der Lähmung entwickeln, wenn diese erkrankte Motoneuronen mit mutiertem SOD1 von gesunden Neuronen umgeben sind. Als jedoch das mutierte SOD1-Protein vollständig und selektiv aus den Motoneuronen in denselben Mäusen entfernt wurde, entwickelten diese Mäuse die Krankheit immer noch zur Überraschung aller. Diese Ergebnisse bestätigten, dass neben den Motoneuronen auch andere Zellen eine Rolle bei ALS spielen können.

 
Die Rolle der Astrozyten
 
Ein erster wichtiger Zelltyp in der Umgebung von Motoneuronen sind die Astrozyten. Diese sternförmigen Zellen sind etwa 10-mal zahlreicher als die Neuronen. Sie erfüllen eine wichtige strukturelle Aufgabe im Nervensystem, da sie als Stützzelle zwischen den Blutgefäßen und den Neuronen fungieren. Dennoch haben Astrozyten andere wichtige Aufgaben – zum Beispiel versorgen sie die Nervenzellen mit Nährstoffen wie Glukose. Auf der Zelloberfläche der Astrozyten befinden sich auch Glutamattransportkomplexe wie EAAT2, die für die Aufnahme von überschüssigem Glutamat aus der extrazellulären Umgebung in die Astrozyten verantwortlich sind. Glutamat ist ein Neurotransmitter, der von einer Nervenzelle freigesetzt wird, um eine andere Nervenzelle (z. B. ein Motoneuron) zu aktivieren. Bei etwa 65% aller ALS-Patienten und bei mutierten SOD1-Mäusen ist eine starke Reduktion der Expression und Aktivität von EAAT2 im Kortex und Rückenmark messbar. Dies würde dazu führen, dass sich ein Überschuss an Glutamat in der extrazellulären Umgebung ansammelt, was für Motoneuronen sehr schädlich sein kann. Kürzlich wurde auch bei einem ALS-Patienten eine Mutation im EAAT2-Gen entdeckt - diese Mutation störte das Glykosylierungsmuster von EAAT2, wodurch dieser Transporter sehr schlecht in die Zelloberfläche von Astrozyten eingebaut wurde. Darüber hinaus ist Riluzol, das einzige Medikament, das derzeit zur Behandlung von ALS zugelassen ist, ein Glutamatinhibitor, der die Rolle von Astrozyten bei der Glutamat-vermittelten Toxizität bei ALS weiter bestätigt.

 
Rolle der Mikroglia bei ALS

Ein zweiter Zelltyp, der für das Milieu der Motoneuronen wichtig ist, ist die Mikrogliazelle. Micoglia sind die Immunzellen unseres zentralen Nervensystems: Sie spielen eine wichtige Rolle beim Schutz unseres Nervensystems vor unerwünschten Krankheitserregern oder bei der Beseitigung von Abfällen aus bestimmten Zellen. Mikroglia sind auch bei ALS sehr wichtig. Dies zeigte eine Studie an mutierten SOD1-Mäusen, bei der das mutierte SOD1-Protein selektiv aus den Mikroglia entfernt wurde. Mäuse ohne SOD1 in den Mikroglia entwickelten gleichzeitig mit den Mäusen mit SOD1 in den Mikroglia eine Lähmung. Die Rate, mit der die Motoneuronen starben, und der damit verbundene Prozess der Lähmung verlangsamten sich jedoch sehr drastisch. Dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis: Schließlich ist es sehr schwierig vorherzusagen, welche gesunde Menschen ALS bekommen werden. Sobald ALS beim Menschen als Folge von Lähmungssymptomen diagnostiziert wird, hat die Krankheit bereits begonnen. Behandlungen beim Menschen sollten daher den Beginn des Lähmungsprozesses nicht verzögern, sondern in der Lage sein, die Lähmungsrate zu verlangsamen oder zu stoppen. Mikroglia scheinen dabei also eine entscheidende Rolle zu spielen. Weitere Forschungen in Montreal ergaben auch, dass Motoneuronen das toxische SOD1 absondern, das die Mikroglia aktiviert und schädliche Entzündungsstoffe wie TNF-a und Interleukine produziert. Wenn aus Knochenmark gewonnene Stammzellen, die kein mutiertes SOD1-Protein produzieren, in SOD1-Mäuse injiziert werden, wird das Leben dieser Mäuse deutlich verlängert. Schließlich entwickelten sich die meisten dieser aus dem Knochenmark gewonnenen Zellen im Rückenmark der SOD1-Mäuse zu Astrozyten und Mikroglia. Es stellte sich heraus, dass sie die Schwere der Entzündung reduzieren und so die Lähmung bei diesen Mäusen verlangsamen konnten.

 
Therapeutische Implikationen für ALS-Patienten
 
Diese neuen Erkenntnisse, die zeigen, dass sowohl Astrozyten als auch Mikroglia bei ALS sehr wichtig sind, können auch zur Entwicklung neuer Therapien für ALS beitragen. So wurde beispielsweise in einem systematischen Screening von mehr als 1.000 bereits auf dem Markt befindlichen Medikamenten untersucht, welches Medikament die Expression des EAAT2-Transporters in Astrozyten erhöhen könnte. Überraschenderweise wurde festgestellt, dass die b-Lactam-Antibiotika die Expression des EAAT2-Transporters um den Faktor 2 erhöhen. Wenn diese Antibiotika SOD1-Mäusen verabreicht wurden, war ihre Lähmung weniger ausgeprägt als bei den mit Placebo behandelten Mäusen. Ein ähnlicher therapeutischer Effekt wurde beobachtet, wenn mutierte SOD1-Mäuse mit Thalidomid oder Lenalidomid behandelt wurden - zwei Substanzen, die die Produktion von Entzündungsstoffen durch Mikroglia hemmen und die Produktion entzündungshemmender Substanzen stimulieren. Das Besondere an diesen beiden Medikamenten ist, dass sie bereits für die Behandlung anderer Krankheiten zur Verfügung stehen. Da Medikamente erst nach umfangreichen Tests und Zulassungen auf den Markt gebracht werden dürfen, könnte dieses Verfahren für b-Lactam-Antibiotika und Thalidomid deutlich schneller sein als für andere potenzielle Medikamente. Dennoch muss zunächst abgewartet werden, ob diese Medikamente die gleiche positive Wirkung auf die Erkrankung beim Menschen haben. Klinische Studien, um dies zu demonstrieren, laufen derzeit in Amerika.

 
Dieser Text wurde von Joke Dhondt und Diether Lambrechts verfasst. Joke arbeitete als Doktorand und Diether als Postdoktorand am Zentrum für Transgene Technologie (CTG) des Flämischen Instituts für Biotechnologie (VIB) an der Katholischen Universität Leuven (KUL).

Übersetzung: Marijke Praet
 

 

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